Aus dem Buch => Krankheit als Weg  von Rüdiger Dahlke und Thorwald Dethlefsen

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Die Magersucht (anorexia nervosa)


Wir wollen unser Kapitel über die Verdauung abschließen mit einer klassischen, psychosomatischen Krankheit, die ihren Charme aus der Mischung von Gefährlichkeit und Originalität bezieht. (Immerhin sterben zwanzig Prozent aller Patientinnen noch daran!): die Magersucht. Bei der Magersucht treten der Witz und die Ironie, die jede Krankheit enthält, besonders offenkundig zutage: Ein Mensch weigert sich zu essen, weil er keine Lust dazu hat, und stirbt daran, ohne jemals das Gefühl dafür entwickelt zu haben, krank zu sein. Das ist Größe! Angehörige und Ärzte solcher Patienten haben meist viel mehr Schwierigkeit, Größe zu zeigen. Sie alle sind meistens eifrig bemüht, die Magersüchtigen vom Vorteil des Essens und des Lebens zu überzeugen, und steigern dabei ihre Nächstenliebe bis zur klinischen Zwangsernährung. (Wer so viel Komik nicht genießen kann, ist ein schlechter Zuschauer beim großen Welttheater!)
Die Magersucht finden wir fast ausschließlich bei Patientinnen. Sie ist eine typisch weibliche Krankheit. Die Patientinnen, meistens in der Pubertät, fallen durch eigenartige Eßgewohnheiten bzw. »Nicht-Eßgewohnheiten« auf: Sie weigern sich, Nahrung zu sich zu nehmen, was teils bewußt, teils unbewußt mit dem Wunsch, schlank zu bleiben, motiviert wird.
Die strikte Weigerung, etwas zu essen, schlägt allerdings zwischendurch auch ins Gegenteil um: Wenn sie allein sind und nicht beobachtet oder gesehen werden, fangen sie an, enorme Mengen von Speisen in sich hineinzuschlingen. So leeren sie nachts den Kühlschrank und essen alles in sich hinein, was sie nur finden können. Doch sie wollen die Nahrung nicht bei sich behalten und sorgen dafür, daß sie alles wieder erbrechen. Sie erfinden alle möglichen Tricks, um ihre besorgte Umwelt über ihre Eßgewohnheiten zu täuschen. Es ist meist äußerst schwierig, sich ein zutreffendes Bild darüber zu machen, was eine Magersüchtige wirklich ißt und was sie nicht ißt, wann sie ihren Heißhunger befriedigt und wann nicht.
Wenn sie schon mal essen, bevorzugen sie Dinge, die die Bezeichnung »Nahrung« kaum verdienen: Zitronen, grüne Äpfel, saure Salate, also ausschließlich Dinge mit wenig Nährwert und Kalorien. Zusätzlich verwenden diese Patientinnen meistens noch Abführmittel, um das Wenige oder das Nichts, das sie zu sich nehmen, auch möglichst schnell und sicher wieder loszuwerden. Auch haben sie ein großes Bewegungsbedürfnis. Sie machen ausgedehnte Spaziergänge und laufen sich so den Speck, den sie nie angesetzt haben, ab, was bei dem oft sehr geschwächten Gesamtzustand der Patientinnen recht erstaunlich ist. Auffallend ist ein übergroßer Altruismus dieser Patientinnen, der sogar häufig darin gipfelt, daß sie gern und mit viel Sorgfalt für andere kochen. Für andere kochen, sie bewirten und ihnen beim Essen zusehen das macht ihnen nichts aus, solange sie nur nicht mitessen müssen. Ansonsten haben sie einen großen Hang zur Einsamkeit und ziehen sich gern zurück. Häufig fehlt magersüchtigen Patientinnen die Menstruation, fast immer haben sie zumindest Probleme und => Störungen in diesem Bereich.
Fassen wir dieses symptomatische Bild zusammen, so finden wir hier die Übersteigerung eines asketischen Ideals. Im Hintergrund steht der alte Konflikt zwischen Geist und Materie, oben und unten, Reinheit und Trieb. Nahrung baut den Körper auf und nährt somit das Reich der Formen. Das Nein der Magersüchtigen zum Essen ist ein Nein zur Körperlichkeit und zu allen Ansprüchen, die vom Körper ausgehen Das eigentliche Ideal der Magersüchtigen geht weit über den Bereich des Essens hinaus: Das Ziel ist Reinheit und Vergeistigung. Man möchte alles Schwere und Körperliche loswerden. Man möchte der Sexualität und der Triebhaftigkeit entfliehen. Sexuelle Keuschheit und Geschlechtslosigkeit heißt das Ziel. Dafür muß man möglichst schlank bleiben, sonst entstehen am Körper Rundungen, die die Magersüchtige als Frau ausweisen würden. Doch Frau sein will man nicht.
Nicht nur vor den runden, weiblichen Formen hat man Angst, sondern ein dicker Bauch erinnert auch an die Möglichkeit, schwanger werden zu können. Der Widerstand gegen die eigene Weiblichkeit und gegen die Sexualität äußert sich deshalb auch im Fehlen der Regelblutungen. Das höchste Ideal der Magersüchtigen heißt: Entmaterialisierung. Weg von allem, was noch mit der niederen Körperlichkeit zu tun hat.
Vor dem Hintergrund eines solchen Askeseideals schätzt sich die Magersüchtige nicht als krank ein und hat überhaupt kein Verständnis für irgendwelche therapeutischen Maßnahmen, die alle nur dem Körper dienen, von dem sie ja gerade weg will. So umgeht sie gekonnt jede Zwangsernährung in den Kliniken, indem sie durch immer raffiniertere Tricks alle Nahrung unauffällig verschwinden läßt. Sie lehnt jede Hilfe ab und verfolgt verbissen ihr Ideal, durch Vergeistigung alle korporalen Bereiche hinter sich zu lassen. Der Tod wird nicht als Bedrohung empfunden, da ja gerade das Lebendige es ist, was so viel Angst auslöst. Man hat Angst vor allem, was rund, amorph, weiblich, fruchtbar, triebhaft und sexuell ist, man hat Angst vor Nähe und Wärme. Aus diesem Grunde beteiligen sich die Magersüchtigen auch nicht am gemeinsamen Essen. In der Runde zusammensitzen und gemeinsam Nahrung zu sich zu nehmen, ist in allen Kulturen ein uraltes Ritual, bei dem menschliche Nähe und Wärme entsteht. Doch gerade diese Nähe flößt der Magersüchtigen Angst ein.
Diese Angst wird gespeist aus dem Schattenbereich dieser Patientinnen, in dem die so sorgsam im bewußten Leben gemiedenen Themen mit fordernder Gier auf ihre Verwirklichung warten. Die Magersüchtigen besitzen einen riesigen Heißhunger nach dem Lebendigen, den sie aus Angst, von ihm gänzlich überrollt zu werden, mit ihrem Symptomverhalten auszurotten versuchen. Doch überfallen sie der verdrängte und bekämpfte Heißhunger und die Gefräßigkeit von Zeit zu Zeit. Und so kommt es zu dem heimlichen Freßverhalten. Schuldbewußt wird dieser »Ausrutscher« dann durch Erbrechen wieder rückgängig gemacht. So findet die Magersüchtige nicht die Mitte in ihrem Konflikt zwischen Gier und Askese, zwischen Hunger und Verzicht, zwischen Egozentrik und Hingabe. Hinter dem altruistischen Verhalten finden wir immer eine stark überzogene Egozentrik, die man im Umgang mit diesen Patientinnen sehr bald zu spüren bekommt. Man sehnt sich heimlich nach Zuwendung und erzwingt sie über den Umweg der Krankheit. Wer das Essen verweigert, hält plötzlich eine ungeahnte Macht über die Menschen in Händen, die in verzweifelter Angst glauben, einen Menschen zum Essen und zum Überleben zwingen zu müssen. Mit diesem Trick halten bereits kleine Kinder ihre Familien sicher im Griff.
Den Magersüchtigen kann man nicht durch Zwangsernährung helfen, sondern bestenfalls, indem man ihnen hilft, gegenüber sich selbst ehrlich zu werden. Die Patientin muß in sich ihre Gier, ihren Heißhunger nach Liebe und Sex, ihre Egozentrik und ihre Weiblichkeit mit all der Triebhaftigkeit und Leiblichkeit entdecken und akzeptieren lernen. Sie muß begreifen, daß man die irdischen Bereiche weder durch Bekämpfung noch durch Verdrängen überwächst, sondern allein dadurch, daß man sie integriert, lebt und dadurch transmutiert. In dieser Hinsicht könnten viele Menschen aus dem Krankheitsbild der Anorexia auch für sich eine Lehre ableiten. Nicht nur Magersüchtige tendieren dazu, mit anspruchsvoll klingender Philosophie die Angst auslösenden Ansprüche ihrer Leiblichkeit zu verdrängen, um so ein reines und vergeistigtes Leben zu führen. Sie übersehen leicht, daß Askese meistens einen Schatten wirft und dieser Schatten heißt: Gier.