Wir wollen unser Kapitel über die Verdauung abschließen
mit einer klassischen, psychosomatischen Krankheit, die ihren Charme aus
der Mischung von Gefährlichkeit und Originalität bezieht. (Immerhin
sterben zwanzig Prozent aller Patientinnen noch daran!): die Magersucht.
Bei der Magersucht treten der Witz und die Ironie, die jede Krankheit enthält,
besonders offenkundig zutage: Ein Mensch weigert sich zu essen, weil er
keine Lust dazu hat, und stirbt daran, ohne jemals das Gefühl dafür
entwickelt zu haben, krank zu sein. Das ist Größe! Angehörige
und Ärzte solcher Patienten haben meist viel mehr Schwierigkeit, Größe
zu zeigen. Sie alle sind meistens eifrig bemüht, die Magersüchtigen
vom Vorteil des Essens und des Lebens zu überzeugen, und steigern
dabei ihre Nächstenliebe bis zur klinischen Zwangsernährung.
(Wer so viel Komik nicht genießen kann, ist ein schlechter Zuschauer
beim großen Welttheater!)
Die Magersucht finden wir fast ausschließlich bei Patientinnen.
Sie ist eine typisch weibliche Krankheit. Die Patientinnen, meistens in
der Pubertät, fallen durch eigenartige Eßgewohnheiten bzw. »Nicht-Eßgewohnheiten«
auf: Sie weigern sich, Nahrung zu sich zu nehmen, was teils bewußt,
teils unbewußt mit dem Wunsch, schlank zu bleiben, motiviert wird.
Die strikte Weigerung, etwas zu essen, schlägt allerdings zwischendurch
auch ins Gegenteil um: Wenn sie allein sind und nicht beobachtet oder gesehen
werden, fangen sie an, enorme Mengen von Speisen in sich hineinzuschlingen.
So leeren sie nachts den Kühlschrank und essen alles in sich hinein,
was sie nur finden können. Doch sie wollen die Nahrung nicht bei sich
behalten und sorgen dafür, daß sie alles wieder erbrechen. Sie
erfinden alle möglichen Tricks, um ihre besorgte Umwelt über
ihre Eßgewohnheiten zu täuschen. Es ist meist äußerst
schwierig, sich ein zutreffendes Bild darüber zu machen, was eine
Magersüchtige wirklich ißt und was sie nicht ißt, wann
sie ihren Heißhunger befriedigt und wann nicht.
Wenn sie schon mal essen, bevorzugen sie Dinge, die die Bezeichnung
»Nahrung« kaum verdienen: Zitronen, grüne Äpfel,
saure Salate, also ausschließlich Dinge mit wenig Nährwert und
Kalorien. Zusätzlich verwenden diese Patientinnen meistens noch Abführmittel,
um das Wenige oder das Nichts, das sie zu sich nehmen, auch möglichst
schnell und sicher wieder loszuwerden. Auch haben sie ein großes
Bewegungsbedürfnis. Sie machen ausgedehnte Spaziergänge und laufen
sich so den Speck, den sie nie angesetzt haben, ab, was bei dem oft sehr
geschwächten Gesamtzustand der Patientinnen recht erstaunlich ist.
Auffallend ist ein übergroßer Altruismus dieser Patientinnen,
der sogar häufig darin gipfelt, daß sie gern und mit viel Sorgfalt
für andere kochen. Für andere kochen, sie bewirten und ihnen
beim Essen zusehen das macht ihnen nichts aus, solange sie nur nicht mitessen
müssen. Ansonsten haben sie einen großen Hang zur Einsamkeit
und ziehen sich gern zurück. Häufig fehlt magersüchtigen
Patientinnen die Menstruation, fast immer haben sie zumindest Probleme
und => Störungen in diesem Bereich.
Fassen wir dieses symptomatische Bild zusammen, so finden wir hier
die Übersteigerung eines asketischen Ideals. Im Hintergrund steht
der alte Konflikt zwischen Geist und Materie, oben und unten, Reinheit
und Trieb. Nahrung baut den Körper auf und nährt somit das Reich
der Formen. Das Nein der Magersüchtigen zum Essen ist ein Nein zur
Körperlichkeit und zu allen Ansprüchen, die vom Körper ausgehen
Das eigentliche Ideal der Magersüchtigen geht weit über den Bereich
des Essens hinaus: Das Ziel ist Reinheit und Vergeistigung. Man möchte
alles Schwere und Körperliche loswerden. Man möchte der Sexualität
und der Triebhaftigkeit entfliehen. Sexuelle Keuschheit und Geschlechtslosigkeit
heißt das Ziel. Dafür muß man möglichst schlank bleiben,
sonst entstehen am Körper Rundungen, die die Magersüchtige als
Frau ausweisen würden. Doch Frau sein will man nicht.
Nicht nur vor den runden, weiblichen Formen hat man Angst, sondern
ein dicker Bauch erinnert auch an die Möglichkeit, schwanger werden
zu können. Der Widerstand gegen die eigene Weiblichkeit und gegen
die Sexualität äußert sich deshalb auch im Fehlen der Regelblutungen.
Das höchste Ideal der Magersüchtigen heißt: Entmaterialisierung.
Weg von allem, was noch mit der niederen Körperlichkeit zu tun hat.
Vor dem Hintergrund eines solchen Askeseideals schätzt sich die
Magersüchtige nicht als krank ein und hat überhaupt kein Verständnis
für irgendwelche therapeutischen Maßnahmen, die alle nur dem
Körper dienen, von dem sie ja gerade weg will. So umgeht sie gekonnt
jede Zwangsernährung in den Kliniken, indem sie durch immer raffiniertere
Tricks alle Nahrung unauffällig verschwinden läßt. Sie
lehnt jede Hilfe ab und verfolgt verbissen ihr Ideal, durch Vergeistigung
alle korporalen Bereiche hinter sich zu lassen. Der Tod wird nicht als
Bedrohung empfunden, da ja gerade das Lebendige es ist, was so viel Angst
auslöst. Man hat Angst vor allem, was rund, amorph, weiblich, fruchtbar,
triebhaft und sexuell ist, man hat Angst vor Nähe und Wärme.
Aus diesem Grunde beteiligen sich die Magersüchtigen auch nicht am
gemeinsamen Essen. In der Runde zusammensitzen und gemeinsam Nahrung zu
sich zu nehmen, ist in allen Kulturen ein uraltes Ritual, bei dem menschliche
Nähe und Wärme entsteht. Doch gerade diese Nähe flößt
der Magersüchtigen Angst ein.
Diese Angst wird gespeist aus dem Schattenbereich dieser Patientinnen,
in dem die so sorgsam im bewußten Leben gemiedenen Themen mit fordernder
Gier auf ihre Verwirklichung warten. Die Magersüchtigen besitzen einen
riesigen Heißhunger nach dem Lebendigen, den sie aus Angst, von ihm
gänzlich überrollt zu werden, mit ihrem Symptomverhalten auszurotten
versuchen. Doch überfallen sie der verdrängte und bekämpfte
Heißhunger und die Gefräßigkeit von Zeit zu Zeit. Und
so kommt es zu dem heimlichen Freßverhalten. Schuldbewußt wird
dieser »Ausrutscher« dann durch Erbrechen wieder rückgängig
gemacht. So findet die Magersüchtige nicht die Mitte in ihrem Konflikt
zwischen Gier und Askese, zwischen Hunger und Verzicht, zwischen Egozentrik
und Hingabe. Hinter dem altruistischen Verhalten finden wir immer eine
stark überzogene Egozentrik, die man im Umgang mit diesen Patientinnen
sehr bald zu spüren bekommt. Man sehnt sich heimlich nach Zuwendung
und erzwingt sie über den Umweg der Krankheit. Wer das Essen verweigert,
hält plötzlich eine ungeahnte Macht über die Menschen in
Händen, die in verzweifelter Angst glauben, einen Menschen zum Essen
und zum Überleben zwingen zu müssen. Mit diesem Trick halten
bereits kleine Kinder ihre Familien sicher im Griff.
Den Magersüchtigen kann man nicht durch Zwangsernährung helfen,
sondern bestenfalls, indem man ihnen hilft, gegenüber sich selbst
ehrlich zu werden. Die Patientin muß in sich ihre Gier, ihren Heißhunger
nach Liebe und Sex, ihre Egozentrik und ihre Weiblichkeit mit all der Triebhaftigkeit
und Leiblichkeit entdecken und akzeptieren lernen. Sie muß begreifen,
daß man die irdischen Bereiche weder durch Bekämpfung noch durch
Verdrängen überwächst, sondern allein dadurch, daß
man sie integriert, lebt und dadurch transmutiert. In dieser Hinsicht könnten
viele Menschen aus dem Krankheitsbild der Anorexia auch für sich eine
Lehre ableiten. Nicht nur Magersüchtige tendieren dazu, mit anspruchsvoll
klingender Philosophie die Angst auslösenden Ansprüche ihrer
Leiblichkeit zu verdrängen, um so ein reines und vergeistigtes Leben
zu führen. Sie übersehen leicht, daß Askese meistens einen
Schatten wirft und dieser Schatten heißt: Gier.